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Von Julia aus Hamburg

Der Geldautomat steht gerade mal 20 Meter von meinem Auto entfernt. Ein Geldautomat im Eingangsbereich von Kaufland. Es ist 9.45 Uhr an einem Donnerstag, der Teil des Tages, der genau zwischen dem morgendlichen Ansturm und dem Ansturm in der Mittagszeit liegt. Es sind nur eine Handvoll anderer Menschen anwesend, nicht der Rede Wert, alle Kassen sind leer.

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Ich wäge meine Möglichkeiten ab: Ich kann jetzt jedes Kind einzeln aus dem jeweiligen Autositz befreien und sie für die 13 Sekunden in den Laden schleppen, die ich brauchen würde, um die 20-Euro abzuheben. Oder ich kann sie einfach weiter schlafen lassen, sie sicher im Auto einschließen, während ich sie die ganze Zeit im Blick habe. Wie gesagt: Es sind 20 Meter zum Automaten!

Ich habe mich das vorher noch nie getraut – also wirklich getraut -, aber ich habe es mir schon mindestens tausendmal vorgestellt. Die Kinder schlafen, ich habe sie im Blick, schwupp, eine zwei Minuten Sache wäre erledigt.

Wegen einer zwei Minuten Transaktion muss ich jetzt also ein 27-stufiges Kommando planen. Mit zwei kleinen Kindern überhaupt erstmal AUS dem Auto und IN den Laden zu kommen, ist verdammt anstrengend! Aber jedes Mal, wenn es hart auf hart kam, konnte ich mich aus vielerlei Gründen nicht dazu durchringen: Weil mein älterer Sohn vielleicht aufwachen könnte, weil er merken würde, dass ich nicht da bin, weil das klimatisierte Auto urplötzlich überhitzen könnte oder weil jemand meinen SUV in 90 Sekunden aufbrechen könnte und mit der kostbarsten Ladung im Schlepptau davon brausen würde.

Doch der wichtigste Grund, warum ich mich das noch NIE wirklich getraut habe, ist…

…die Angst davor, dass ein vollkommen Fremder meine Kinder durch die getönten Scheiben meines Autos sehen könnte und mich bei meiner Rückkehr so dermaßen beschimpfen würde, wie ich meine Kinder so gefährden konnte. Oder noch schlimmer: Sie würden die Polizei rufen und erzählen, dass ich meine Kinder in Gefahr gebracht hätte.

In diesem Moment, als ich auf dem Fahrersitz saß und diese absurden möglichen Ergebnisse analysierte, wurde mir klar, wie sehr die Angst mich verunsicherte, von völlig Fremden als schlechte Mutter eingestuft zu werden. Ich lasse mir also diktieren, wie ich meine Kinder zu erziehen habe?

Das brachte mich dazu, mich zu fragen: Welche Art von Mutter würde ich sein, wenn niemand jemals zuschauen würde?

Ich wurde ob meiner Überlegung wirklich neugierig…..Würde ich der Typ Mutter sein, der den Bananenhaufen im Supermarkt nicht abwiegt, bevor er von meinem älteren Sohn verschlungen wird? Würde ich der Typ Mutter sein, der im Restaurant einmal am Wein nippt und dennoch das plötzlich hungrige Baby stillen würde? Würde ich der Typ sein, der selbstbewusst die Flasche gibt, anstatt fünf lange Monate Tag und Nacht an eine elektrische Milchpumpe angeschlossen zu sein? Wenn ich also brutal, unverfroren ehrlich sein würde, dann würde ich auf jede einzelne dieser Fragen mit JA antworten. Und wenn niemand zuschauen würde, würde ich mich wahrscheinlich nicht einmal schlecht fühlen.

Also, wenn ich wirklich so fühle, warum lasse ich total Fremde so viel Einfluss auf meine Entscheidungen haben?

Ich denke, da bedarf es mehr als eine einfach Antwort. Es sind eine Menge kleiner Faktoren, die mich manchmal davon abhalten, einfach auf meinen Bauch zu hören und das zu tun, was meiner Meinung nach am Besten für meine Kinder ist. Ein Teil dieser Faktoren davon ist, dass wir in einer Zeit des schnellen Urteils leben. Niemand hält sich zurück oder nimmt gar Rücksicht auf die Wortwahl. Nein, du bist eine Mutter und du hast gefälligst keine Fehler zu machen. Und wenn doch: Dann wird es dir binnen Sekunden um die Ohren gehauen.

Ein anderer Aspekt ist, dass ein wertender Fremder nur eine Momentaufnahme meines Lebens als Mutter sieht, nicht das ganze, liebevoll zusammengestellte Fotoalbum. Das ist der Grund, warum ich immer nervös werde und das Handy während eines Wutanfalls im Restaurant doch schnell meinem Sohn gebe oder im Supermarkt doch das Schrottheft mit Gimmick kaufe. Ich tue das aus Angst vor der Verurteilung der Anderen („Wie kannst du deinen Sohn so schreien lassen?“) Dabei war ich doch immer diejenige, die früher zu denen gehört hat, die diese Verhaltensweisen so verurteilt habe. Und heute habe ich also selber Angst für meine Entscheidungen verurteilt zu werden. Das macht keinen Sinn, das ist mir schon klar, aber die Tatsache bleibt: Für mich hat die Angst vor dem Urteil einen großen Einfluss auf die Entscheidungen, die ich als Mutter treffe.

Also, wenn ich zum Geldautomaten hasten würde und meine Kinder ganze zwei Minuten unbeaufsichtigt wären, dann mache ich mir die ganzen zwei Minuten Sorgen. Jedoch nicht um meine Kinder, die auf dem Rücksitz eines klimatisierten Autos sicher schlafen, sondern lediglich um die anderen Leute, die mich deswegen verurteilen würden. Wenn es diese anderen Zuschauer nicht geben würde, wäre ich mir sicher, dass ich keine Bedenken hätte. Aber genau diese Angst vor den Reaktionen der Anderen ist eben da. Und da stehe ich nun, nur 20 Meter vom Ziel entfernt. Mein wirrer Verstand macht aus 20 Metern mal eben 2 Km. Wie so oft zuvor habe ich also einem völlig unbekannten Fremden die Absolution erteilt, Entscheidungen für mich zu treffen, oder zumindest habe ich ihm die Macht erteilt, dass ich mich noch schlechter fühle als sowieso schon.

Dies wirft die Frage auf: Wenn eine Mutter ihr Kind in einem sicher verschlossenen Auto lässt und niemand sonst in der Nähe ist, um sie verurteilen zu können, stellt sie selbst ihre Entscheidung dann auch in Frage?

Denkt mal drüber nach…..

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