Meine Name ist Anna, ich komme aus Bochum und bin Mutter eines hochsensiblen Kindes. Ich selber bin auch hochsensibel und ich möchte anderen Eltern mit meiner Geschichte Mut machen.
Als mein Tochter noch kleiner war, fiel auf, dass sie nicht zu den Kindern gehörte, die man leicht von etwas überzeugen konnte. Alles musste so sein, wie es wollte. Wenn dem nicht so war, dann…….Uiiiii, wehrte sie sich. Mit Händen und Füßen und mit allem, was ihr zur Verfügung stand.
Sie war schon als Baby so. Einmal, sie muss ungefähr sieben Monate alt gewesen sein, saß sie völlig konzentriert auf unserem Rasen und zupfte Gänseblümchen. Irgendwann wurde es Zeit, ins Haus zurück zu gehen und so hob ich sie hoch. Sie fing direkt an zu weinen. Kein zartes Gejammer. Wir reden von lautem Klagen. Sie schüttelte zornig ihre kleinen Fäuste und schaute sehnsüchtig auf die Gänseblümchen, die wir zurückließen. Ich setzte sie wieder ins Gras, und sie zeigte mir ihr zufriedenes Lächeln, aber sobald ich sie wieder hochnehmen wollte, begann sie erneut mit ihrem wütenden Szenario inkl. hektischer Flecken am ganzen Körper.
Ich hätte bis dato nie geglaubt, dass ein so kleines Baby schon so klar ausdrücken kann, was es will. Dieses kleine Kind hatte Gefühle für diese Gänseblümchen-Situation, lass es mich so ausdrücken: Das waren wirklich starke Gefühle.
Es waren nicht nur die berühmten Veränderungen mit denen sie Probleme hatte. Ein paar Monate, nachdem sie feste Nahrung zu sich nehmen konnte, wurde sie zu einer sehr wählerischen Esserin. Wenn eine Mahlzeit nicht ihren Vorlieben entsprach, drehte sie ihre Nase in die Luft und presste die Lippen aufeinander. Auch bei der Auswahl der Kleidung war sie stets pingelig: keine Tiermotive, nichts Kratzendes. Sie beklagte sich oft, dass es zu heiß oder zu kalt sei.
Meine Tochter neigte auch über die Kleinkindjahre hinaus bis zur Grundschulzeit zu diesen berühmten Wutanfällen und es war echt schwer, sie da wieder herauszuholen. Sie ging in nur einer Sekunde von Null auf etwa 180000, wenn sie etwas verärgerte.
Wenn ich ehrlich bin, so hat mich diese Intensität ihrer Tobsuchtsanfälle wirklich oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Wie viele Eltern von willensstarken Kindern gab ich mir die Schuld, dass ich sie nicht „zähmen“ konnte, und ich fühlte mich frustriert – und manchmal sogar traumatisiert – von diesem Kind, was aussah wie ein kleiner Wutzwerg, der stets versuchte, jeden Aspekt unseres Lebens zu kontrollieren.
Natürlich war sie trotz alledem unser Glückskind, unser Leben und unser Ein und Alles. Sie war von klein auf an sehr intelligent – eine nachdenkliche Person, denn die Räder in ihrem kleinen Gehirn schienen sich kontinuierlich zu drehen. Sie liebte es, zu lesen, Geschichten zu erfinden und mit Zahlen zu hantieren. Sie lernte bereits mit knapp drei Jahren lesen und manipulierte mit vier Jahren bereits die Geschichten in ihren Lieblingsbüchern. Sie wurde als „hochbegabt“ eingestuft, bevor sie überhaupt in den Kindergarten kam.
Ihre Intensität, mit der sie ihr Leben lebte, machte mir den größten Teil ihrer Kindheit echt zu schaffen. Es war easy für andere, sie einfach als „störrisch“ zu bezeichnen – oder sie wählten den etwas positiveren Begriff „willensstark“ – allerdings habe ich selbst kürzlich festgestellt, dass beide Begriffe nicht unbedingt auf sie passen. Bei einer persönlichen Recherche im Internet stieß ich plötzlich auf eine Psychologin, die den Begriff „hochsensible Person“ geprägt hat. Ich selber wurde früher immer als „empfindlich“ bezeichnet, und als ich dann die Liste der Hochsensiblen-Eigenschaften las, ging mir direkt ein Licht an. Plötzlich ergab mein Bedürfnis nach Ruhe, meine starken Emotionen und meine unheimliche Fähigkeit, die Gefühle aller um mich herum wahrzunehmen zu können, einen Sinn. Ich war also gar nicht „seltsam“, ich gehöre anscheinend nur zu den 20% der Bevölkerung, die mit dem „hochsensiblen“ Gen geboren wurden.
Zuerst kam es mir gar nicht in den Sinn, dass auch meine Tochter ein hochsensibler Mensch sein könnte. In vielerlei Hinsicht ist sie wirklich unsensibel – sie kann manchmal selbstsüchtig sein und sie ist nicht besonders introvertiert oder schüchtern. Aber als ich auf die Checkliste für hochsensible Kinder klickte, passte meine Tochter auf fast jedes Merkmal. Da stand plötzlich schwarz auf weiß alles, was sie ausmachte: ihre Sensibilität für verschiedene Lebensmittel, für Gerüche, für Kleidung bis hin zu ihrer Intuitivität und ihrem ausgeprägten Perfektionismus.
Die Psychologin schrieb, dass hochsensible Menschen ganz normal sind, ihre Eigenschaften sind angeboren, aber auch, dass viele hochsensible Menschen immer missverstanden werden. Hatte ich meine Tochter all die Jahre missverstanden? Vielleicht war sie gar keine dickköpfige, eigensinnige, nervige Ziege. Vielleicht war sie nur sensibel, verletzlich – ein Mädchen, welches die Welt einfach intensiver wahrnimmt als andere? Ein kleines Mädchen, welches die Dinge mit allen Sinnen fühlt.
War ich zu streng mit ihr? Obwohl ich oft Mitgefühl zeigte und obwohl ich erkannte, dass ihre Sturheit mit ihrer Begabung verknüpft war, wusste ich ganz sicher, dass ich nicht immer genug Geduld mit ihr hatte. Da ich selber auch hochbegabt und hochsensibel bin, war es wirklich schwer für mich, ihre wilde Art auf Dauer ertragen zu können.
Als meine Tochter ungefähr acht Jahre alt wurde, fiel uns auf, wie intensiv sie über verschiedene Dinge nachdachte. Abends, wenn ich sie ins Bett brachte, erzählte sie mir von ihren Sorgen – Sie machte sich Sorgen um die Schule, um ihre Freunde, sogar Sorgen über den Zustand der Welt. Sie nimmt die kleinen Details der Menschen um sie herum auf. Sie nimmt die Dinge tief in sich auf, sie denkt intensiv darüber nach und sie braucht sehr oft Hilfe bei der Verarbeitung ihrer Gefühle.
Ich bin dankbar, dass sie mich als ihre Vertraute sieht – eine Person, mit der sie all diese Sorgen teilen kann. Obwohl ich mich wegen meiner eigenen Ungeduld bestimmt oft unbeliebt bei ihr gemacht habe, so weiß ich doch, dass sie und ich eine starke und innige Bindung miteinander haben. Schließlich sind wir beide hochsensible Menschen, wir lieben von ganzem Herzen.
Wisst ihr, meine Tochter ist mittlerweile 11 Jahre alt und sie blüht zu einer schönen, reifen, einfühlsamen Seele auf. Sie ist heutzutage viel besser darin, ihre großen Gefühle zu verstehen und zu managen. Sie merkt eigenständig, wenn sie mal wieder zu „vernünftig“ ist und sie gibt ihr Bestes, einfach mal „mitzumachen“. Sie neigt immer noch dazu, zu schnell aus der Haut zu fahren, mittlerweile kommt sie sogar mit einer Konkurrenzsituation klar, allerdings gehören Wutanfälle der Vergangenheit an (Gott sei Dank!).
Wie alle Eltern hoffe auch ich, dass die Welt da draußen nicht zu hart für sie sein wird. Ich hoffe, ich kann ihre besondere Empfindsamkeit weiterhin als Geschenk sehen, ich hoffe, ihr helfen zu können, all den ganzen harten Tobak unbeschadet durchzustehen. Ich werde alles dafür geben, dass auch sie dieses erstaunliche Kind in sich akzeptiert und in den Arm nimmt, so wie ich es tue. Ein Leben lang.