Ein Gastartikel von Janina aus Hamburg
Meine süße, blonde Lotti trug eine herzförmige, rote Sonnenbrille, sie hatte ein Eulentattoo auf der Hand und sie trug ein knielanges Jeanskleid mit Punkten drauf. Sie sah unfassbar niedlich aus. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade im Badezimmer und machte mich bereit für die Arbeit, aber ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren, weil sie einfach so wunderschön aussah.
Es war Valentinstag und Lotti sprang am Morgen bereits in unser Bett, verspeiste Schokolade und hinterließ jede Menge Schokoladen-Flecken auf dem Laken. Wir kicherten und knuddelten in unserem warmen Familienbett. Es war einer dieser Bilderbuch-Momente. Wir brachten Lotti gemeinsam in die Kita und verabschiedeten uns von ihr. Alles war gut.
Am Nachmittag befand ich mich gerade in einem Meeting, als Lotti auf dem Spielplatz der Kita zusammenbrach. Durch einen Anfall, der eine endlose Minute dauerte, verkrampfte ihr kleiner Körper, die Erzieherinnen rollten sie auf die Seite, ein Krankenwagen wurde gerufen, andere Kitakinder sahen erschrocken zu. Ich wollte gerade meine Unterlagen zusammenpacken und das Meeting verlassen, als ich durch einen Anruf auf meinem Handy unterbrochen wurde. Es klingelte.
„Entschuldigung, ich muss da rangehen.“
Anrufe, die derart wichtig sind, sollten das Telefon rot leuchten, explodieren oder wenigstens Wärme abstrahlen lassen. Es klingelte. Als die Kitaleitung in einem bewusst ruhigen Ton sprach, wusste ich, dass ich jedes Wort aufnehmen musste. Mein Herz ist mir bei der Nachricht direkt in die Hose gerutscht. Sie sagte mir, was passiert war. Sie bat mich, möglichst schnell in die Kita zu kommen. Und dann sagte sie: „Sie ist bei Bewusstsein und sie atmet.“
Diese Worte waren einerseits beruhigend – und wunderbar – und andererseits extrem schrecklich. Als sie in den Krankenwagen geladen wurde, telefonierte ich heulend mit den Sanitätern und bat sie inständig, auf mich zu warten. Das konnten sie natürlich nicht. Nicht bei ihr sein zu können, hat mich total fertig gemacht. Sie waren bereits auf dem Weg Richtung Notaufnahme. Ich fuhr sofort los. Ich weinte die komplette Fahrt über. An der nächsten Kreuzung hörte ich die Sirenen auf mich zukommen. Zeitgleich erreichten wir den Wilhelmsstift, unser Kinderkrankenhaus hier in Hamburg.
„Das ist sie“, sagte ich, und ich hatte Recht. Ich stieg aus, rannte dem Krankenwagen entgegen und als die Sanitäter die Türen öffneten, sah ich sie endlich; Meine kleine Schönheit lag in einem unverhältnismäßig großen Krankenwagenbett, die Augen waren geöffnet, sie wirkte geschockt und blickte starr nach vorne, als sie sie auf einer Trage aus dem Wagen beförderten.
„Es geht ihr gut! Machen sie sich keine Sorgen“, sagte ein Arzt, als ich ihre pummelige kleine Hand berührte.
„Ihr geht’s gut, ihr geht’s gut“, sagte die Kitaleitung, als ich ihr in die Schulter schluchzte.
Aber Lotti war nicht sie selbst. Sie zitterte sehr stark. Ihre Augen schauten zwar alles an, sie schien aber durch alles hindurch zu gucken. Sie schien auch durch mich hindurch zu schauen. Ich näherte mich ihr, sammelte mich und sagte ihren Namen, so sanft und liebevoll wie ich nur konnte, dann hauchte ich: „Ich bin es, Mami“
Ihre Augen schienen sich zu konzentrieren. Sie streckte ihre Hände aus und legte ihre warmen Handflächen an meine Wange und sie hielt sich dort fest und schenkte mir ein müdes Lächeln und einen Blick der Liebe, den ich nie wieder vergessen werde.
Sie war so anders, sie war eine total veränderte Lotti. Sie gab leise, kleine Lacher von sich, die ich sonst noch nie von ihr gehört hatte. Sie sagte nicht viel und manchmal beschrieb sie mir Dinge, die gar nicht da waren, Spielzeug, Monster, Feen… Sie trank einen Schluck Wasser und schlug mir dann vor, „nach oben zu gehen, um unsere Katze zu streicheln“. Ich habe ihr erklärt, dass wir gar nicht zu Hause sind. Mein kleines Fiebermädchen tat mir so leid.
Ärzte kamen und untersuchten sie, verschiedene Kabel wurden an ihr befestigt und ich legte mich zu ihr ins Krankenhausbett, mein Magen knurrte vor Hunger, das Baby in meinem Bauch trat aus Protest gegen seine oder ihre Schwester (Wir wissen das Geschlecht des Babys noch nicht). Mein Mann erreichte endlich auch das Krankenhaus. Auch er wirkte blass und verängstigt.
Es stellte sich heraus, dass Lotti einen Fieberkrampf hatte, eine tatsächlich relativ häufig auftretende Reaktion bei Kindern auf einen sehr schnellen Temperaturanstieg. Ich hätte zu dem Zeitpunkt am liebsten das ganze Internet nach allen Informationen zum Thema durchgeforstet, aber nachdem mir versichert wurde, dass es Lotti gut ginge, lies ich es zunächst bleiben.
Um 21 Uhr versuchte sie bereits wieder waghalsige Saltos auf ihrem Krankenhausbett zu machen. Ich fing langsam wirklich an zu glauben, dass es ihr tatsächlich wieder gut ging. Und dann hielten wir uns bei der ersten Taxifahrt ihres Lebens an den Händen, als wir durch das schöne nächtliche Hamburg fuhren und sie aus dem Fenster schaute und ein Lied sang. Eine alberne Version des ABCs. Sie verwechselte die Buchstaben absichtlich und lachte über ihre eigenen Witze. Sie lehnte sich zu mir und tat so, als würde sie fest schlafen. Ich konnte nichts anderes tun, als sie zu berühren und sie anzustarren.
Es erinnerte mich plötzlich an den Moment ihrer Geburt, als ich sie das erste Mal sah, sie lag auf meinem Bauch und schaute mir direkt in die Augen, und bevor ich überhaupt wusste, dass sie ein Mädchen war, konnte ich das ganze Universum in ihrem Gesicht sehen. Ich habe eine Galaxie voller Sterne in ihren Augen gesehen. Eigentlich bin ich nicht spirituell, aber ich wusste, dass sie von weit her kam, und sie kam zu mir. Und ich habe lange auf sie gewartet.
Nachts im Taxi schien es, als wären die Gebäude, die sich in der Alster spiegelten, wie Galaxien, und unsere Heimfahrt glich einer Reise ins Glück. Sie war wieder bei mir. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen, der Schock über das Geschehene war zu groß aber die Tatsache, dass sie neben uns im Bett lag und es ihr gut ging, war das schönste Gefühl überhaupt.
All die Nachrichten der letzten Tage verblassten gegen das Gefühl, ein gesundes Kind zu haben. Plötzlich war es egal, ob mein Mann befördert worden war oder ob ich eine Auszeichnung als Architektin entgegen genommen hatte.
Während Lotti und ich an diesem besagten Abend auf das Taxi warteten, konnte ich in einem der Zimmer eine Familie beobachten, die über ihrem krebskranken, kahlköpfigen Kind wachten. Mein Herz zerbrach in tausend Stücke. Manchmal ist es überwältigend, Mutter zu sein. Ein Kind ist das größte Geschenk auf der Welt, ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann.
Eine kleine, warme Hand auf meiner Wange ist der schönste Schmuck, den ich als Mutter an diesem Tag tragen konnte.