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Ein Gastartikel von Sarah aus Delmenhorst. Sarah ist Kinderpsychologin, sie arbeitet in Bremen.

Meine Nerven lagen blank. Meine Tochter Lina befand sich mal wieder inmitten eines Wutanfalls der Extraklasse, sie war verärgert über die Welt, verärgert über alles und jeden. Es fing schon am Morgen an: Sie wachte auf der falschen Seite des Bettes auf – das Elend nahm seinen Lauf. Sie schluchzte, sie schrie, sie weigerte sich, sich die Haare zu bürsten – Ich versuchte locker zu bleiben. Dann warf sie ein Buch auf ihre kleine Schwester, traf dabei ihren Rücken und hinterließ einen fetten Kratzer. Ich fühlte, wie ich langsam aber sicher die Fassung verlor.

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Wenn jemand den du abgöttisch liebst, dein Baby absichtlich verletzt, ist das Gefühl, welches in dir hochkommt echte RAGE. Diese Art der Gefühle meiner Tochter gegenüber waren mir bis dato fremd, bis, ja bis, der Vorfall mit dem Buch passierte. Ich fühlte mich verwirrt und verzweifelt. Ich fühlte mich als Versagerin, wie konnte das bloß passieren? Es fühlte sich so an, als müsse ich direkt nochmal in die erste Klasse der „Elternschule“ gehen.

Instinktiv wollte ich sie anschreien. Ich wollte sie für ihr Verhalten bestrafen. Ich war echt sauer!

Das ist nicht das, was du erwartest hattest, oder? Ich auch nicht. Ich bin eben auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich plötzlich an ein kleine Textpassage, welche ich vor Jahren mal in einem Elternblog gelesen hatte.

„Menschen treffen dann schlechte Entscheidungen, wenn sie verängstigt oder gestresst sind. Wirf ein bißchen Liebe in die Runde und du wirst das beste aus ihnen herausholen. Wahre Liebe bringt immer das beste hervor.“

Klingt unheimlich richtig, oder? Ja, diese Textpassage war meine Rettung in diesem Moment. Ernsthaft, so kitschig es auch klingen mag, diese kleine Textpassage enthält alles Wichtige, wenn es um frühkindliche Verhaltensmuster und erfolgreiche Erziehung geht. Es enthält den Kern aller Problemlösungen: Die Annahme, dass alle Menschen ihr bestes geben wollen, die Umstände, Qualifikationsdefizite und Entwicklungsunreife sie aber oft davon abhalten. Diese Textpassage macht uns klar, dass unser wichtigstes Erziehungsziel darin bestehen sollte, unsere Kinder auf das gewünschte Verhalten hin zu trainieren, und nicht darin, sie für ihre Unfähigkeit zu bestrafen.

Denk mal über folgendes nach: Wenn du eine Fußballmannschaft in der Anfangsphase leiten würdest und ein Spieler nicht gefrühstückt hätte und er so nicht genug Energie hat, um die 90 Minuten durchhalten zu können, würdest du dich dann über ihn ärgern oder würdest du ihm etwas zu essen geben? Wenn er ein Tor versemmelt, würdest du ihn gleich aus dem Spiel nehmen oder würdest du mit ihm an seinen Fähigkeiten arbeiten? Wenn er einen  Pass in den Sand gesetzt hätte, würdest du mitten im Spiel zu ihm laufen und mit gereizter Stimme erklären, wie krass er versagt hat, oder würdest du die nächste Übung dazu nutzen, seine Fähigkeiten zu verbessern? Wenn du in einem Anfall von Wut auf das Feld stürmen würdest, wäre das nicht nur unangebracht, sondern auch ziemlich lächerlich.

Wenn du also ein guter Trainer bist, dann denkst du darüber nach, wo du deinen Spieler in Zukunft haben möchtest und nicht darüber, wo er jetzt steht. Ihr arbeitet gemeinsam an Zielen. Du siehst es als deine Aufgabe an, ihnen etwas beizubringen und sie zu führen. Wenn wir in der Erziehung erfolgreich sein wollen, müssen wir genauso zielorientiert handeln.

Bedeutet das dann jetzt, dass wir unsere Kinder einfach frei laufen lassen können und dabei in Kauf nehmen, dass andere Menschen dabei verletzt werden? Keine Verantwortung für das eigene Handeln? Überhaupt nicht. Heißt das, dass wir Eltern uns jeder noch so kleinen Bitte unserer Kinder beugen müssen? Nicht im Geringsten. Heißt das, dass wir nie wütend oder verärgert sein dürfen? Das ist unmöglich. Es bedeutet lediglich, dass wir unsere Kinder zunächst als Menschen betrachten, die sich naturgemäß nach Gefühlen und Bedürfnissen richten, sie handeln nicht aus Boshaftigkeit.

Wir sollten folgendes bedenken:

In 99% der Fälle stellt das Verhalten unserer Kinder keine Notfälle dar. Wir haben also fast immer genug Zeit um durchzuatmen, nachzudenken und erst dann zu handeln.

So eine Situation triggert auch immer unsere Ängste, sie triggert Geschehnisse aus unserer Vergangenheit. In diesen stürmischen Momenten der Kleinkind- und Vorschulerziehung treten die Ängste, die wir in der Tiefe abgespeichert haben, oft in den Vordergrund unseres Denkens. Schnell und voreilig befürchten wir, dass das eigene Kind auf dem Weg ist, eine Karriere als kompletter Soziopath hinzulegen! Wir befürchten, dass die beiden Kinder sich NIE lieben werden. Diese Gedanken sind realitätsfern und sehr unrealistisch. Es ist übrigens auch ungerecht dem Kind gegenüber, denn wer kommt schon PERFEKT auf diese Welt? Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Ängste unsere spontanen Elternreaktionen diktieren.

Wir besitzen unsere eigenen Emotionen und Vorbilder, um mit den Gefühlen umgehen zu können, die an die Oberfläche kommen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Es ist völlig in Ordnung, deinem Kind folgendes zu sagen: „Mami fühlt sich im Moment verängstigt und wütend. Ich brauche eine Minute, um mich zu beruhigen.“ Wenn wir  anerkennen, was innerlich in uns vor sich geht und wenn wir zeigen, wie wir mit den echten ungefilterten Gefühlen, die wir haben, gewaltfrei umgehen können, so zeigen wir unseren Kindern damit, wie sie ebenso reagieren können.

Wir stellen die Regeln darüber auf, was in Ordnung geht und was nicht. Wenn unsere Kinder unangemessene Methoden anwenden, um ihre Emotionen auszudrücken und um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, dann müssen wir ihnen dabei helfen, eine alternative Lösung zu finden. „Wir schlagen nicht. Wir schreien unsere Lieben und Freunde nicht an. Fällt dir eine andere Möglichkeit ein, Schatz?“

Wir sollten sparsam mit den Konsequenzen umgehen. Ein Buch auf den Rücken eines Geschwisterkindes werfen? In meinem Haus ist das eine der Grenzen, die nicht überschritten werden darf. Eine Auszeit ist ok, diese muss aber nicht laut und böse rüber gebracht werden. Sie kann eine Chance sein, dem Kind dabei zu helfen, aufzuhören und die Kontrolle über sich selbst zurück zu erlangen. Wenn wir eine Konsequenz für eine Aktion festlegen, so sollte sie angemessen sein (wie z.B. kein IPAD gucken am Abend), die Konsequenz sollte nicht weit hergeholt oder strafend für die ganze Familie sein („Das war’s! Einen Monat lang gibt es jetzt keine Verabredungen mit Freunden!“).

Wir erlauben unseren Kindern so, ihre eigenen Lösungen finden zu können: „Schau, du musst dir die Haare bürsten, bevor wir losgehen können. Du willst jetzt aber weiterspielen. Was sollen wir jetzt also tun?“

Die Kleinkindjahre sind voller Magie und Wunder, aber sie können auch voller Stress und Aufruhr sein. Wenn deine Kinder sich wie kleine Monster verhalten, kümmere dich zuerst um deine eigenen Emotionen, lerne diese zu verstehen, und sieh die Wutanfälle und das „schlechte“ Verhalten in erster Linie als „Lernmomente“ – Es handelt sich hierbei um wichtige Schritte auf dem Weg zur emotionalen Selbstregulierung und effektiven Problemlösung. Wenn du das also beherzigst, wirst du ein tolles Team von gesunden, belastbaren Menschen aufbauen. Viel Glück!

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