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Ein Gastbeitrag von Helen aus Bochum

Es ist einfach so passiert.

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Ich dachte an seine ersten Lebenswochen. Wow, was für ein auf und ab der Gefühle. Und diese Schlaflosigkeit. Die Sorgen. Alles war noch so neu für uns.

Dann erinnerte ich mich an seine erste Geburtstagsparty, ich beugte mich über ihn, mein Mann neben mir, und unser Sohn pustete seine Kerzen auf dem Elmo Kuchen ganz stolz alleine aus. Da war ich bereits schon eine ganz andere Frau, als die, die ich ein Jahr zuvor war und auch er war auch schon ein ganz anderes Kind als ein Jahr zuvor: Ein Kleinkind, ein kleiner frecher Junge, der Bälle liebte und den Schalk im Nacken hatte.

Danach gab es Jahre, die gefühlt langsamer vergingen und Jahre, die fast an uns vorbei flogen. Seine Beine wurden immer länger. Irgendwann meißelten sich die Wangenknochen aus seinen einst noch runden Babybacken heraus. Seine Haare verdichteten sich. Die Milchzähne fielen heraus und riesige, erstaunlich gerade Zähne ersetzten sie. Er wurde ein richtig großer Junge.

Ich muss euch heute etwas gestehen. An einem Punkt, verloren zwischen Wäschehaufen, Sportplänen und Mathe-Hausaufgaben, zwischen Schul-Projekten und Geburtstagsfeiern hatte ich etwas vergessen. Eigentlich weiß man ja, dass die Zeit viel zu schnell voran schreitet aber als Mutter verdrängt man die Tatsache, dass alles eines Tages für immer und unwiederbringlich vorbei sein wird. Alle Phasen, alle gemeinsamen Momente, alles. Eltern tragen einen besonderen Kummer fortwährend mit sich im Herzen herum: Einerseits sind wir unendlich dankbar, dass die Kinder nach und nach größer und älter werden aber andererseits müssen wir schmerzlich akzeptieren, dass unsere Kinder uns immer weniger brauchen werden.

Ich schwöre, dass es am Ende wirklich über Nacht passiert ist. Obwohl er quasi gefühlt bis eben noch mein kleiner Junge war, ist er quasi schon heute erwachsen. Irgendwann in den letzten paar Jahren wurde ein Schalter umgelegt. Er begann länger aufzubleiben. Er begann immer später einzuschlafen. Er sehnte sich nach mehr Privatsphäre, nach mehr Zeit für sich, um Videospiele spielen zu können, um lesen zu können und um einfach nur sein eigenes Ding machen zu können. Er bereitete sich sein eigenes Essen zu. Er war mehr unterwegs als zu Hause. Er kam zwar immer noch zu mir, um mir einen guten Morgen oder gute Nacht zu wünschen, aber eigentlich lebte er da schon total eigenständig.

Mir kam es tatsächlich so vor, als ob alle Tage und Wochen und Jahre zuvor nie existierten oder wie ein neumodischer 3 D-Effekt in Sekundenschnelle an mir vorbeizogen. Er war plötzlich größer als ich, und er hatte Geheimnisse und Träume und Hoffnungen und Ängste, die ich nur erahnen konnte, weil er mir nicht mehr davon erzählte. Er, dieser große, kantige, junge Mann. Wir urarmen uns zwar immer noch intensiv, allerdings sind seine langen Arme uns oft im Weg. Arme, die nicht mehr genau wissen, was sie da mit mir machen sollen.

Als Mama weiß man von Anfang an, dass man sein Baby irgendwann gehen lassen muss. Du weißt, dass dein Baby nich ewig bei dir bleiben kann. Wenn du deinen Job richtig gemacht hast, dann bist du irgendwann mal überflüssig. Das ist das Ziel. Dein Kind soll dich nicht ewig brauchen müssen.

Was mir niemand vorher gesagt hat, ist, dass das Loslassen schon so früh beginnt. Ich dachte, ich hätte ewig Zeit. Ich dachte, dass es so laufen würde: Es würde unzählige Momente geben, die sich zu einem Erinnerungs-Berg anhäufen würden und dass, wenn ich sie alle zusammenfügen würde, es eine Art Sättigungsgefühl eintreten würde. Ich glaubte, es würde sich irgendwie irgendwann vollständig und genug anfühlen. Stattdessen geriet ich ein wenig in Panik. Das gemeinsame Leben fühlte sich an wie Sand, der mir aus der hohlen Hand rieselte. Ich fühlte mich, als müsse ich immer wieder auf seine Schulter tippen um ihn aufzufordern, doch auch mal zurückschauen, aber er wollte und will das nicht, er rennt mir mit seinen langen Beinen davon. Das war es dann jetzt, dachte ich. Er ist doch immer noch mein Junge. Er ist doch immer noch mein Baby. Mein Sohn ist groß und er muss alleine weitergehen. Ich musste Loslassen.

Ich versuche mein bestes. Ich versuche nicht zu klammern, ihn nicht zurückzuhalten. Ich kneife die Augen zu und hoffe, dass er sanft fallen wird, wenn er denn stürzt, weil ich insgeheim weiß, dass ich ihn nicht immer beschützen kann. Ich versuche mein bestes. Aber das ist hart. Die schwierigste Aufgabe einer Mutter ist das Wissen darüber zu haben, dass man sein Kind ziehen lassen muss und gleichzeitig zu wissen, dass man es nicht vor all dem Kummer beschützen kann.

Ich fühle mich, als ob ich mich oben auf der Achterbahn befinde, ihr wisst schon, der Punkt, wo man eigentlich laut lachen muss vor lauter Aufregung aber gleichzeitig hat man wahnsinnige Angst vor dem Fall. Der Punkt, an dem man eigentlich wieder raus will, aber gleichzeitig hofft man, dass man mutig genug ist, um die Hände hoch fliegen zu lassen, damit man sich mal wieder so richtig spüren kann. Ja, genauso fühle ich mich momentan.

 

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