Werbung

Ein wunderschöner Gastbeitrag von Kristin Sch.

Als ich ES das erste Mal sah, wusste ich, es ist wie geschaffen für mich. Ich wusste es, weil ER es mitgebracht hatte. Seine Elfen hatten es nur für mich gebaut, genau passend für meinen Körper. Das perfekte glänzende Pink mit den weißen Lenkergriffen war perfekt. Alles an meinem neuen Fahrrad war perfekt. Das gebrauchte Fahrrad hingegen, das mein Vater mir im Jahr zuvor geschenkt hatte, ein grünes Monster, das so hoch war, dass meine Zehen nicht mal den Boden berührten und ich quasi permanent in Schieflage war, passte so gar nicht zu mir. Nicht, dass es die Schuld meines Vaters gewesen wäre, er besaß einfach nur nicht die gleichen magischen Fähigkeiten wie die Elfen des Weihnachtsmannes.

Werbung

An jenem Weihnachtsmorgen fuhr ich zum ersten Mal ohne Stützräder auf einem Fahrrad. Zuvor hatte mein Vater monatelang versucht, hinter mir herzulaufen und mich auf dem Sitz des schrecklichen grünen Fahrrads festzuhalten. Er war frustriert, weil ich darauf beharrte, dass es zu groß war. Auf das neue Fahrrad des Weihnachtsmannes sprang ich nur so auf und flog die Straße hinunter, als wäre ich schon seit Jahren unterwegs, und der Weihnachtszauber strömte nur so durch meine Glieder.

Mein Glaube an den Weihnachtsmann war unerschütterlich – die Glöckchen, die ich am Heiligabend aus dem Wohnzimmer klingeln hörte, hatten ihn besiegelt. Und auf einer eher praktischen Erwägung heraus, wusste ich, dass meine Eltern sich unmöglich den ganzen Haufen von Geschenken leisten konnten, den der Weihnachtsmann jedes Jahr für meine Schwester und mich aus seinem Schlitten lud. Wir hatten nicht wirklich viel Geld.

An dem Morgen, an dem mir klar wurde, dass der Weihnachtsmann in Wirklichkeit keine lebende, atmende Person ist, die mit Rudolf dem Rentier und Tausenden von cleveren Elfen am Nordpol wohnt, war ich am Boden zerstört. Ich hatte am Abend zuvor einen Zahn verloren und wachte genau in dem Moment auf, als meine Mutter krampfhaft versuchte, eine kleine Goldmünze unter mein Kopfkissen zu legen, von der Zahnfee, ihr wisst schon.   Das ganze Kartenhaus stürzte auf einmal ein, und einfach so, in einem einzigen, katastrophalen Augenblick, hörten alle magische Wesen, an die ich mein ganzes junges Leben lang geglaubt hatte, auf zu existieren. An jenem Morgen saß ich auf der Kante meines Bettes und hatte meine erste wirklich existenzielle Krise. Die kleine Goldmünze, die mir meine Mutter für meinen verlorenen Zahn geschenkt hatte, trug nicht gerade dazu bei, meinen Kummer zu lindern.

Aber wisst ihr was? Als ich selber Mama wurde, zögerte ich keine Sekunde und lud die Legende des Weihnachtsmannes direkt wieder in unser Haus ein. Andere Eltern aus unserem Bekanntenkreis verbannten den Weihnachtsmann. Die Vorstellung, ihren Kindern jahrelang ins Gesicht zu lügen, gefiel ihnen nicht. Ich verstand das. Ich kam allerdings zu einem anderen Schluss. Der Moment der Verzweiflung, den ich mit neun Jahren empfand, war flüchtig und unbedeutend im Vergleich zu den Jahren der Magie, die ihm vorausgingen.

Jedes Jahr stellen sich Tausende von Eltern aufs Neue die Frage, ob, wie und vor allem wie lange sie die Weihnachtsmann-Lüge aufrecht erhalten sollen. In meiner örtlichen Elterngruppe berichtete eine Mutter, dass ihr Sohn, ein Zweitklässler, gehänselt wurde, weil er immer noch an den Weihnachtsmann glaubte. Sie bat die anderen Eltern in der Gruppe, mit ihren Kindern, die nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, zu sprechen und sie zu bitten, den unschuldigen Glauben ihres Freundes an diese magische Figur nicht zu zerstören. Die Realität wird sich früh genug einstellen, flehte sie.

Für diejenigen unter uns, die die Legende vom Weihnachtsmann für ihre Kinder verbreiten, kann die Frage, wie man mit der Wahrheit umgeht, wenn sie denn ans Licht kommt, eine heikle Angelegenheit sein. Eltern beschreiben den Verlust des Glaubens an den Weihnachtsmann, als einen tragischen Meilenstein des Erwachsenwerdens und als etwas, für das sie sich schuldig fühlen sollten, weil sie ihre Kinder jahrelang „angelogen“ haben.

Ich glaube fest, dass man es auch anders sehen kann. Für uns endet die Magie des Weihnachtsmanns nicht zeitgleich mit dem Glauben an selbigen. Tatsächlich glaube ich immer noch an den Weihnachtsmann und ich werde es immer tun. Das tun meine Kinder auch. Für mich ist der Weihnachtsmann wie eine Medaille mit zwei Seiten. Auf der einen Seite ist der Weihnachtsmann, der in einem magischen Schlitten fährt, der von fliegenden Rentieren gezogen wird, mit Lichtgeschwindigkeit reist und Milliarden von Spielsachen in einen einzigen Sack packt eine Art Sinnbild für magische Kindheitsträume für mich. Auf der anderen Seite der Münze steht der Weihnachtsmann in der Realität sozusagen für eine ganze Armee von Zauberern, die, wie meine Eltern auch, einem imaginären Mann die Anerkennung für ihre finanziellen Opfer und sorgfältig durchdachten Einkäufe überlassen. Mein Vater suchte mein perfekt pinkes Fahrrad aus, und als ich ihm mit hochmütiger Gewissheit sagte: „Siehst du? Ich habe dir doch gesagt, dass das andere Fahrrad zu groß ist. Der Weihnachtsmann wusste genau, welches Fahrrad das richtige für mich ist“, flimmerte ein Lächeln über seinen Mund.

Mein Vater war der Weihnachtsmann. Jeder, der die Magie des Weihnachtsmanns erzeugt, ist der Weihnachtsmann. Dabei ist es völlig egal, ob du derjenige bist, der die Geschenke kauft und unter den Baum legt, oder ob du selbst das große Kind bist, das aufgehört hat zu glauben, aber weiterhin für die kleinen Kinder mitspielst, um den Zauber aufrecht zu erhalten- DU bist der Weihnachtsmann. Wenn ein Kind nicht mehr an den Spielzeugmacher aus Fleisch und Blut glaubt, der in der Realität existiert, DANN wirst du selbst eben zum Weihnachtsmann – dem echten Weihnachtsmann. Und nun bist du der Reihe, die Magie des Weihnachtsmanns für die kleineren Kinder, die noch glauben wollen, aufrechtzuerhalten. Die Magie ist und war immer da. Die Magie verschiebt sich nur ein Bisschen, wenn du so willst.

Als mein Sohn die Wahrheit über den Weihnachtsmann erfuhr, erzählte ich ihm von genau den eben erwähnten zwei Seiten der Medaille. Er ärgerte sich zwar darüber, dass der Weihnachtsmann nicht wirklich ein echter Mann in einem roten Anzug war, aber die Idee, selbst zum Weihnachtsmann werden zu können, überzeugte ihn. Von da an trug er den Mantel des Weihnachtsmanns mit feierlicher Überzeugung und erzählte anderen kleinen Kindern die Geschichte von Rudolf und dem wunderschönen Haus am Nordpol. Die Augen der kleinen Kinder leuchteten bei diesen Geschichten, und wenn ich sehe, wie wundervoll er die Geschichten erzählt, dann weiß ich, dass er den Zauber des Weihnachtsmanns nicht verloren hat. Er betrachtet nur die andere Seite der Medaille. Er ist zum Weihnachtsmann geworden. Das können alle Kinder.

Ich meine, wer weiß das schon genau – vielleicht gibt es den Weihnachtsmann ja doch. Bis heute bestehen meine Eltern darauf, dass sie nicht ein einziges Mal im Wohnzimmer die Glöckchen geläutet haben, bevor sie laut riefen: „Kristin, komm runter, der Weihnachtsmann war da!“

 

Werbung

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.