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Von Karen aus Stuttgart

Ich erinnere mich noch lebhaft daran, dass ich vor acht Jahren mal bei einer Spiel-Verabredung war. Mein Erstgeborener war damals noch ein Kleinkind, und ich war mit seiner Schwester schwanger. Ich hatte durchaus schon ein paar „Erziehungskämpfe“ hinter mir. Der Wind wurde mir aus den Segeln genommen, als ich beim Stillen episch versagte. Ich fragte mich auch, was ich falsch machte, als mein Baby im Alter von einem Jahr immer noch nicht durchschlief. Trocken werden? Freunde…, lasst mich davon gar nicht erst anfangen.

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Aber Benehmen und Disziplin? Das hatte ich im Griff. Mein Kind saß in brav in einer Ecke des Haus der anderen Mutter und las Bücher. Stapelte Bauklötze. Leise und ruhig zog er Spielzeugzüge über die Gleise. Nie hat er auch nur daran gedacht, auf Möbel zu klettern, von Möbeln zu springen oder ein Spielzeug durch den Raum zu werfen.

Doch genau so haben sich viele andere Kinder verhalten. Und da saß ich mit gespitzten Lippen und schüttelte den Kopf vor Missbilligung. Ich meine, wie schwer ist es bitte, ein Kind zu erziehen? Warum erlaubt man einem Kind, sich von der Couch zu katapultieren oder das kleine Mädchen neben ihm anzugreifen, das unschuldig mit den Babypuppen gespielt hat?

Was war mit diesen Kindern los? Was war mit den Müttern dieser Kinder los?

Ein paar Monate nach diesem Spieldate wurde meine Tochter geboren, und sie war ihrem älteren Bruder sehr ähnlich. Sie war sehr gechillt, schlief viel und schrie wenig.

Und dann beschloss der liebe Gott, auf meine Kosten einen schönen, herzlichen Lacher loszulassen. Ich glaube, er schaute auf mich herab, ganz selbstgefällig und verurteilend und schaute auf diese verzweifelten, verärgerten Mütter, die ich bei Spielverabredungen und im Park traf, und beschloss, mir sofort ein drittes Kind zu schicken.

Ein Junge. Und dieser Junge war mein Untergang.

Als er laufen konnte, merkte ich es. Als ich versuchte, ihm ein Buch vorzulesen und er es mir unvermittelt an den Kopf warf, wusste ich es. Als ich ihn dabei ertappte, wie er einen Hocker auf einen anderen Hocker stapelte, um Zugang zu den verbotenen Keksen auf dem Tresen zu bekommen, wusste ich es auch.

Ich wusste, dass das Karma sich mir zugewandt hat, um mir gehörig in den Arsch zu beißen.

Hier kommt also meine längst überfällige Entschuldigung an die Mütter da draußen, die ebenfalls „widerspenstige Kinder“ haben und die ich fälschlicherweise verurteilt habe. Ich weiß jetzt, wie es ist, ein Kind zu haben, das seine Gliedmaßen nicht kontrollieren kann. Oder die Lautstärke. Ich weiß, wie es sich anfühlt, einen verurteilenden Blick von Uschi im Supermarkt zu erhalten, weil das Kind aus dem Wagen klettert um Dosen mit Bohnen aus den Regalen zu ziehen und in den Gängen zu verteilen.

JETZT weiß ich wie es ist, immer hinten in der Kirche sitzen zu müssen, damit wir einen schnellen Abgang machen können – auch wenn meine anderen beiden in diesem Alter bereits eine Stunde lang ruhig sitzen und malen oder Bücher anschauen konnten. Mein Jüngster jedoch klettert auf und ab. Den ganzen gesamten Gottesdienst über. Und er weiß leider immer noch nicht, was es heißt zu flüstern.

Er ist der Junge, der rückwärts die Rutsche hochgeht.

Er ist der Junge, der andere Kinder in die Schlange haut, damit er zuerst einen Muffin bekommt.

Er ist der Junge, der die Vase deiner Oma kaputt macht, die seit 20 Jahren auf deinem Regal steht. Bitte lade uns nicht ein, wenn du zerbrechliche Dinge in deiner Wohnung stehen hast.

Ich kann mich daran erinnern, dass ich mit ihm im Untersuchungszimmer des Kinderarztes bei einer seiner U-Untersuchung saß. Er kletterte bereits alle Möbel hoch und runter und hoch und runter, und immer wieder hoch und runter. Er hatte das Hygienepapier, das den Tisch bedeckte, komplett zerknittert und im ganzen Raum verteilt. Und er plante parallel, wie er alle Stühle gleichzeitig auftürmen könnte, um „der Boden ist Lava!“ zu spielen. Der Doktor konnte mein Gesicht sehen. Ich habe geschwitzt. Ich war erschöpft. Und er lächelte und sagte: „Er ist okay. Er ist ein ganz gesunder, normaler, kleiner Junge.“

Ähm, bitte?

Meine anderen beiden Kinder waren in diesem Alter bereits „reifer“, gute Zuhörer und sie verhielten sich in der Öffentlichkeit wie Menschen. Ich erklärte dem Kinderarzt, wie verblüfft ich über die Dinge war, die mein drittes Kind tat – ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Dinge, die seine Geschwister nie getan hätten, weil sie wussten, dass es falsch war, sich um 6:30 Uhr morgens mit einem riesigen Stück Kuchen hinter die Couch zu schmuggeln. Studien haben bereits bestätigt, dass die Gehirnentwicklung von Jugendlichen oft zu fragwürdigen Entscheidungen führt und genauso so ist das bei kleinen Kindern eben auch.

Die Dinge ergaben an diesem Tag plötzlich Sinn. Mir half die Erkenntnis, dass sein Gehirn ein wenig anders verdrahtet ist, als das seiner Geschwister und dass mit ihm alles in Ordnung ist. Und mit mir auch.

Als seine Mutter habe ich gelernt, dass er kein schlecht erzogener Junge ist. Er ist nicht unfreundlich. Wenn er dich mit einem Lichtschwert schlägt, will er dir nicht wehtun. Das ist seine Art zu sagen „Spiel mit mir“. Wenn er dein Kind in der Schlange schlägt, dann nicht, weil er denkt, dass dein Kind keinen Muffin verdient. Er sah nur eine Gelegenheit und ergriff sie. Er wird wahrscheinlich sowieso zwei nehmen und deinem Kind eins abgeben.

Und eine andere unschätzbare Lektion, die mich direkt von meinem Elternsockel holte, war zu lernen, dass Mütter von wilden Kindern stets ihr Bestes geben. Das weiß ich jetzt. Wir erziehen sie. Wir versuchen es zumindest so gut es eben geht. Aber wir wissen auch, woran wir arbeiten müssen. Mein Sohn kann körperlich noch keine Stunde in der Kirche still sitzen. Zum Teufel, er kann noch nicht mal fünf Minuten lang still sitzen, deshalb steigt er von seinem Stuhl und geht während des Essens zehn Mal um den Tisch. Ich habe gelernt, nicht das Unmögliche von ihm zu erwarten. Ich habe gelernt, dass ein paar Bücher und ein Stickerheft ihn nicht beschäftigen werden. Ich habe gelernt, dass ich jedes Mal, wenn ich „nein“ zu seinen Geschwistern sagen muss, fünfmal mehr „nein“ zu ihm sagen muss.

Und ich habe alle, die unseren Weg kreuzen, gewarnt, dass, wenn sie diesem Kind jemals Koffein geben werden, sie für mich gestorben sind 🙂

Mein drittes Kind hat alles verändert. Wenn wir z.B. Ausflüge planen, dann bedenken wir stets, ob es dort genug Platz für ihn zum laufen geben wird. Kann er sich dort genug bewegen? Darf er laut sein? Wenn es nicht passt, dann fahren wir dort wahrscheinlich nicht hin. Und das ist in Ordnung. Er hat sein ganzes Leben noch vor sich, er wird noch lernen, ruhig und still zu sein. Fürs Erste kann er seine Tage damit verbringen, Kissenburgen zu bauen, von Sachen zu springen und das Leben in voller Lautstärke zu leben.

Auch, wenn seine Mama in der Zwischenzeit viele graue Haare bekommt.

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