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Anonymer Gastbeitrag

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich weiß wie viele, vielleicht auch die Mehrheit, über das denken werden, was ich euch gleich berichte. Lasst euch gesagt sein, dass ich keinesfalls stolz darauf bin!
Aber wenn sich auch nur eine Frau in derselben Situation verstanden fühlt oder wenn ich einen Menschen dazu bringe ein klein wenig Verständnis zu haben, dann hat sich dieser Schritt, über den ich lange nachgedacht habe, bereits gelohnt.

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Wenn man mich im Moment auf der Straße sieht, sieht man eine kleine, zierliche, junge Frau und wenn ich etwas Enges trage, könnte man, wegen des leicht gewölbten Bauches, davon ausgehen, dass ich kurz zuvor etwas gegessen oder getrunken habe. Die Wenigsten denken, dass in dieser Wölbung ein ca. 28 cm großes und 600g schweres Ungeborenes steckt. Denn ich bin schwanger, im 7. Monat.

Und ich bin magersüchtig.

Über meiner geliebten Mini-Kugel zeichnen sich meine Rippen ab, an den Seiten meine Beckenknochen und ich kann nicht auf der Seite liegen, weil mein Becken zu wenig gepolstert ist.
Leider sehe ich das Alles nicht, wenn ich mich im Spiegel betrachte. Ich weiß es, weil ich weiß, dass ich mein Körperbild nur verzerrt wahrnehme und weil ich mich mit meinem Partner über die Realität austausche. Doch leider sehe ich das realistische Bild von mir nur für ganz kurze Zeit.
Im Grunde geht es mir nicht darum Modelmaße zu haben. Vielmehr brauche ich, nachdem ich über eine lange Zeit in meinem Leben übermäßige Kontrolle und wenig Freiraum erfahren habe, etwas was ich kontrollieren kann. Und die Kontrolle über mein Gewicht und das was ich zu mir nehme, kann mir nun mal niemand nehmen.

Zu Beginn der Schwangerschaft habe ich, trotz schlimmer Übelkeit, zugenommen und habe das Normalgewicht erreicht. Seitdem stagniert es.
Seitdem ich von meiner Schwangerschaft erfahren habe, habe ich meine tägliche Kalorienmenge erhöht und ich esse bewusster. Mir ist jedoch bewusst, dass es aktuell immer noch ein Energiedefizit gibt und ich arbeite hart daran dieses zu verkleinern.
Die Liebe, die ich für mein Ungeborenes empfinde, ist überwältigend. Aber Liebe und auch das größte Verantwortungsbewusstsein, was man als Mutter haben kann, reichen alleine nun mal nicht aus um Gedanken und Verhaltensweisen, die man über Jahre hinweg gezeigt hat, von einem auf den anderen Tag umzustellen. Noch schwieriger wird es dadurch, dass ich meinem Umfeld nicht von meinen fortwährenden „essgestörten Gedanken“ berichten kann, ohne auf pures Unverständnis zu stoßen. Das macht mich traurig, weil ich als eine Mutter gesehen werde, der das Wohlergehen ihres Kindes egal ist, obwohl das in keinster Weise der Wirklichkeit entspricht.

Zur Unterstützung befinde ich mich daher in engmaschiger psychotherapeutischer und psychiatrischer Behandlung. Aber auch die Behandler sind keine Wunderheiler und somit bleibt die Angst vor der Zahl auf der Waage.
Selbst nicht schwanger ist dies eine der größten Ängste einer Magersüchtigen und indem sie ihr Essverhalten stark kontrolliert und einschränkt versucht sie, dass die Zahl auf der Waage möglichst niedrig bleibt.


Wenn man schwanger ist, wird diese Angst jedoch Realität. Die Zahl auf der Waage steigt von mal zu mal. Man muss nicht für zwei essen damit das passiert, es liegt in der Natur der Sache. Aber als Magersüchtige fühlt sich jeder Bissen noch viel schlimmer an als sonst schon. Das schlechte Gewissen schreit nach jeder Mahlzeit lauter und oftmals liege ich abends im Bett, denke an das was ich über den Tag verteilt gegessen habe und die „gesunde Stimme“ sagt: „Du hast wirklich wenig gegessen. Noch ein oder zwei Kekse wären völlig in Ordnung.“, während die andere Stimme sagt: „Möchtest du dir da wirklich antun? Du nimmst auch ohne diesen Keks zu und mit ihm wird es noch viel mehr sein.“.

Die gesunde Stimme ist die, die die tatsächlichen Fakten sieht und sie einem vor Augen hält. Die gesunde Stimme sagt auch, dass ich wirklich nicht zu dick bzw. weit davon entfernt bin. Gesunde Menschen haben nur diese Stimme, wenn sie überhaupt großartig über ihr Essverhalten nachdenken. Aber ein Mensch mit einer Essstörung hat nun mal auch die „kranke Stimme“, die ihn fertig macht, beleidigt, jeden Bissen kommentiert und vor der man sich für eben jeden Bissen rechtfertigen muss.

Mein Ziel, nicht nur für die Schwangerschaft, sondern auch für mein restliches Leben, ist es, mich dieser Stimme entgegen zu stellen.
Im Moment tue ich dies, indem ich zuverlässig zu meinen Gesprächen und auch zur Vorsorge gehe. Meinem ungeborenem Kind geht es im übrigen fantastisch. Ich nehme ein Vitaminpräparat und trinke zusätzlich hochkalorische Nahrung. Diese verhindert dass ein, für mich sehr unangenehmes, Sättigungsgefühl eintritt, weil der Magen nur sehr wenig befüllt wird. Es enthält jedoch alle lebensnotwendigen Nährstoffe, Vitamine und Mineralien, sodass man sich auch ausschließlich davon ernähren könnte. Damit stelle ich sicher dass mein Kind alles bekommt was es braucht.
Ich arbeite stark daran meinem Bewegungsdrang nicht nachzugeben, weil exzessiver Sport nur ein noch größeres Energiedefizit verursachen und meinem Kind vielleicht etwas „rauben“ würde. Aber ein gewisses Maß an Bewegung brauche ich.

Im Normalfall kann eine Frau mit einem Untergewicht und einem derart schlechtem Ernährungszustand wie meinem seinerzeit nicht schwanger werden. Meine Ärzte haben mir das gesagt, mein Hormonspiegel hat das gesagt, meine Freunde haben das gesagt und jede Fachliteratur hat das gesagt. Ich habe mir seit der Geburt meiner Tochter ein zweites Kind gewünscht, empfand das letzte Jahr jedoch selbst als ungeeigneten Zeitpunkt dafür.
Vielleicht war es das Schicksal oder eine Laune der Natur, dass ich nun trotzdem ein Kind erwarte. Auch wenn ich meinen Körper, abgesehen von der Mini-Kugel, in dieser Schwangerschaft nicht so mag, wie in der letzten denke ich, dass es mir helfen wird dieser Krankheit erneut die Stirn zu bieten. Die Erfahrung, diese Krankheit während einer so besonderen Zeit zu erleben ist für mich, trotz neunjähriger Krankheitsgeschichte, völlig neu.

In Amerika hat sich der Begriff „Pregorexia“ (pregnant = schwanger; anorexia (nervosa) = Magersucht) durchgesetzt, auch wenn dies keine anerkannte Diagnose ist. Fachleute sprechen von einem Phänomen der heutigen Zeit.
Deshalb, und vermutlich auch wegen der drohenden sozialen Verachtung, findet man nur wenige Erfahrungsberichte darüber. Ich habe viel darüber recherchiert, aber nur wenig gefunden, nämlich, dass die Kinder zur Geburt häufig etwas leichter sind, die Mutter jedoch den meisten Schaden in Form von Osteoporose und diversen Mangelerscheinungen erleidet.
Ich bin mir aber sehr sicher, dass ich nicht die einzige Frau bin, die sich in dieser Situation befindet. Genau deshalb habe ich mich dazu entschieden mit diesem Tabu zu brechen und allen essgestörten Schwangeren zu zeigen, dass sie verstanden werden und keine schlechten Mütter sind.

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1 Kommentar

  1. Liebe W. Ich wünsche dir und deinem Kind alles Gute. Danke für deine Geschichte. Ich stand als adipöse Schwangere auf der anderen Seite des Essstörungsuniversum aber die Geschichte, die Blicke, Bedenken und die spürbare Verachtung waren die selben.

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