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Von Elena H.

Meine kleine Tochter verstecke sich schüchtern hinter meinen Beinen, als wir ihre Großeltern begrüßten, die sie seit über sechs Monaten nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte dieser „Wiedervereinigung“ seit Wochen entgegen gefiebert, aber im dem Moment fühlte sie sich nicht einmal annähernd bereit, ihre Großeltern auch nur anzuschauen.

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Freudestrahlend griffen sie nach ihr und ich spürte, wie sich ihre kleinen Hände tiefer in meine Beine gruben. Ich beugte mich vor, und die Großeltern dachten, ich wolle ihnen das Kind überreichen, aber ich konnte es einfach nicht tun. Sogar die peinliche „Gruppenumarmung“, die daraus resultierte, fühlte sich wie ein Verrat und ein Eindringen in ihre Distanzzone an. Ebenso stark war das Gefühl, dass ich ihre Großeltern enttäuscht hatte, dass mein Weigern, mein Kind von meinem Körper zu lösen und das ich es ihnen nicht erlaubte, sie mit Umarmungen und Küssen zu überhäufen, irgendwie unhöflich war. Ich lächelte entschuldigend und murmelte, dass sie bestimmt bald auftauen würde. Ist es meine Pflicht ein verängstigtes Kind zum Kuscheln zu zwingen? Was mache ich denn, wenn sie sie überhaupt nicht umarmen will? Wäre das nicht ungeheuerlich enttäuschend für zwei 80-jährige Menschen, die fast 12 Stunden gefahren sind, nur um uns zu sehen?

Ungeachtet des Enttäuschungsfaktors haben mein Mann und ich beschlossen, dass wir keines unserer Kinder je dazu zwingen werden, jemanden umarmen oder küssen zu müssen, wenn sie das nicht wollen. Selbiges gilt auch für uns. Wenn ich zusehe, wie meine Tochter ihre Zuneigung vor meinem Ehemann zurückhält, dann macht mich das schon traurig. Sie umarmt und küsst mich mehrmals am Tag, ihr Papa hingegen bekommt das selten zu spüren. Sie weigert sich sehr oft, ihren Vater zu umarmen oder zu küssen, wenn er von der Arbeit kommt. So sehr mir das auch für ihn Leid tut, wir werden niemals darauf bestehen, dass sie etwas tut, was sie nicht möchte.

Als ich in den 1980er Jahren als nettes Mädchen von nebenan aufwuchs, wurde sehr viel Wert auf die sogenannte Etikette gelegt. Eine meiner Superkräfte bestand darin, stets darauf zu achten, dass es anderen Menschen in meiner Gegenwart gut ging. Ich wurde dazu erzogen, die Gefühle anderer Menschen zu berücksichtigen, sie stets mit meinen Freunden zu teilen und die Wünsche der Gäste vor meine eigenen zu stellen. Ich war durch und durch ein gutes Mädchen.

Ich glaube immer noch fest an Freundlichkeit, an Mitgefühl und an die Bemühungen, damit Menschen sich wohl und willkommen fühlen. Ich bin generell eine sehr herzliche Person, aber ich glaube auch, dass es absolut falsch ist, Dinge über sich ergehen zu lassen, die man eigentlich gar nicht will, nur um anderen ein gutes Gefühl zu geben. Diese Grenzüberschreitung können bei männlichen, als auch bei weiblichen Kindern einen irreparablen Schaden anrichten. Ein sich windendes, schreiendes Kleinkind oder einen schüchternen 6-Jährigen dazu zu zwingen, sich von jemandem umarmen zu lassen, der möglicherweise seinen Blutdruck erhöht und ihm Gänsehaut verursacht, ist nicht der richtige Weg, um ihm Manieren und Benehmen beizubringen.

Indem wir unseren Kindern beibringen, dass sie wählen können, wen sie umarmen wollen, ermutigen wir sie gleichzeitig, sich für ihren eigenen Körper verantwortlich zu fühlen, anstatt sie zu ermutigen, die Gefühle eines Erwachsenen (oder eines anderen Kindes) über ihre eigenen Gefühle und Wünsche zu stellen. Indem wir unseren Kindern diese eigens gesteckten Grenzen in Bezug auf körperliche Zuneigung erlauben, schützen wir sie gleichzeitig vor sexuellem Missbrauch.

Du findest das übertreiben? Ist es nicht. Diese subtilen Schuldzuweisungen passieren oft unbewusst, aber sie sind mächtig. Ein kleines Mädchen, das sich Sorgen macht, dass sie die Gefühle ihres Cousins verletzen könnte, wenn sie ihm sagt, dass er nicht mit ins Bett kommen kann, um mit ihr zu „kuscheln“, oder ein kleiner Junge, der sich vom Teenagermädchen von nebenan kitzeln lässt, obwohl es ihm unangenehm ist, ist der erste Schritt, um die Tür zum Missbrauch zu öffnen. Ja, wir sollten lernen, ein Geburtstagsgeschenk, das uns eigentlich nicht gefällt, höflich anzunehmen. Ja, wir sollten davon absehen, lauthals zu verkünden, dass Tante Ernas Lasagne schrecklich schmeckt. Aber wir sollten eine Grenze ziehen, wenn wir unseren eigenen Körper für das Vergnügen eines anderen hergeben sollen.

Was ist, wenn die Verhinderung sexuellen Missbrauchs nur eines der Vorteile ist, wenn wir unseren Kindern beibringen, dass sie das Recht haben, Zuneigung abzulehnen? Wenn wir diese Werte ins Spiel bringen, könnten unsere Töchter potenziell davor geschützt werden, solange keinen Sex zu haben, bevor sie es selbst wirklich wollen. Damit beugen wir vor, dass sie nicht das Gefühl bekommen, ihre Freunde zu enttäuschen oder zu beleidigen, wenn sie sich weigern, etwas zu tun, wofür sie noch nicht bereit sind. Wenn bereits junge Mädchen darauf konditioniert werden, andere mit ihrer Körpernähe trösten oder zufrieden stellen zu müssen, welche Hoffnung gibt es wohl, dass sie einen Teenager zurückweisen, der weiter gehen will als sie? Vielleicht werden unsere Mädchen durch das Festsetzen dieser Grenzen, die widerliche Praktik verhindern, mit ihren späteren Chefs zu schlafen, nur um weiterzukommen. Vielleicht hören sie sogar auf, Orgasmen vorzutäuschen oder bei einem Mann zu bleiben, obwohl er egoistisch im Bett ist.

Wenn wir aufhören würden, unseren Kindern beizubringen, die Heiligkeit ihrer Körper, zugunsten des Stolzes, der Vorlieben oder des Glücks anderer aufzugeben, dann würden all ihre Beziehungen während ihres gesamten Lebens aufrichtiger sein.

Mit dieser scheinbar „unhöflichen“ Geste können wir unsere Kinder vor Energiesaugern, falschen Beziehungen und veralteten Geschlechterrollen schützen. Es mag für Oma und Opa enttäuschend sein, aber sie werden es überleben, wenn sie einen Luft-Kuss oder ein High-Five für das Wohlergehen ihrer Enkel akzeptieren. Und wer weiß? Vielleicht wird mein kleines Mädchen nächstes Mal direkt in ihre Arme laufen – weil sie es so wollte.

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