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Ein anonymer Gastbeitrag

Dezember 2007 – mein erstes Weihnachtsfest.
Ich war zu dem Zeitpunkt 27 Jahre alt und freute mich einerseits wie ein kleines Kind, rechnete aber andererseits damit, dass dieser herrlich geschmückte Baum jeden Moment in Flammen aufgehen und ich das volle Ausmaß des Zornes Jehovas zu spüren bekommen würde.
Aber von vorn:

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Soweit meine Erinnerung zurückreicht, war mein Alltag geprägt von Gebeten, Strafen für nicht studierte Wachtürme und die Teilnahme an allen fünf- ja FÜNF- wöchentlichen Veranstaltungen, die mich auf mein Leben als gottgefällige Zeugin Jehovas vorbereiten sollten.

Eine der grausamsten Erfahrungen war für mich stets der Besuch der späten Zusammenkünfte, die nicht selten nach 21:00 endeten. Immer wieder nickte ich kleiner Mensch von ca. fünf Jahren auf dem großen Stuhl ein. Mein Vater hat sich das Schauspiel nie lange angeschaut. Reichte der Klaps auf den Hinterkopf nicht mehr aus, wurde ich auf die äußerste Kante des Stuhles verfrachte,t damit ich keine Möglichkeit hatte, mich anzulehnen. Einmal passierte es schließlich: Ich kippte im Halbschlaf nach vor und eh ich mich versah, fand ich mich in der Toilette wieder, mit reichlich eiskaltem Wasser in meinem verheulten Gesicht.
Als ich mein Schluchzen endlich unter Kontrolle bringen konnte, ging es zurück auf meinen Platz. Unter all den strafend blickenden Augenpaaren der versammelten Gemeinde. Ich bekam Stift und Zettel in die Hand um jedesmal einen Strich zu zeichnen, wenn die Worte Jehova oder Jesus Christus fielen.

Als ich ca 10 Jahre alt war, begann ich die berühmten Berichtszettel auszufüllen, die Aufschluss darüber gaben, wie fleißig ich mich am Predigen von Haus zu Haus beteiligte. Ich tat dies nicht, weil es mir Freude bereitet hat versehentlich mal an der Tür eines Lehrers oder Klassenkameraden zu landen, sondern weil es der nächste logische Schritt auf meiner Karierreleiter war. Ich war nun ungetaufter Predigtdienstschüler.
Den Standard von 8 Std. im Monat erreichte ich nur selten, weshalb ich begann, die Berichtszettel etwas zu pimpen, nachdem ich von den Ältesten (Aufseher) der Gemeinde zurechtgewiesen wurde.

Etwa im selben Alter verspürte ich vermehrt den Drang, so normal sein zu dürfen, wie andere Kinder. Ich schämte mich wahnsinnig, wenn wir nach den Ferien erzählen sollten, welche Geschenke wir zu Weihnachten, Ostern oder zum Geburtstag bekamen und so begann ich schließlich, welche zu erfinden. Ich war schlau genug, mir nichts auszudenken, was man womöglich mal zur Schule mitbringen und zeigen könnte. Also bekam ich mal Langlaufskier, mal eine Zuckerwattemaschine oder einfach nur Kleidung.

Zu dem enormen Leistungsdruck innerhalb der Gemeinde, kam die Belastung meine Eltern in Schutz nehmen zu müssen. Es ist keine Seltenheit das Familien der Zeugen ein ausgeprägtes Doppelleben führen. Der allseits beliebte Spruch: „Die tun doch niemandem was“ macht mich gleichermaßen traurig und wütend. Von Anfang an lernten wir, dass nichts, aber auch gar nichts in „die Welt“ herausgetragen wird, was ein schlechtes Licht auf die Gemeinschaft werfen könnte. Dazu zählten unter anderem der Genuss von Alkohol und Zigaretten, als auch körperliche Züchtigung und Missbrauch!
Mein Vater rauchte und trank. Und es war meine Aufgabe dieses Geheimnis zu bewahren. Noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich bestimmte Geruchskombinationen wie zum Beispiel Tabak und Tic Tac Bonbons wahrnehme. Seine Waffe gegen den verräterischen Geruch.

Als ich mit ungefähr 11 Jahren Wind davon bekam, was mit zwei meiner Freundinnen innerhalb der Gemeinde geschah, riss es mir buchstäblich den Boden unter den kleinen Füßen weg. Der nette Onkel, Bruder W., hatte sich an gleich mehreren Mädchen unserer Gemeinde vergangen. Und auf einmal dämmerte mir das, was mein Vater mit mir tat wenn, ich ihn jeden Abend ins elterliche Bett begleiten sollte. Es war keineswegs normal. Es war unangenehm.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner großen Schwester. Sie hatte zum damaligen Zeitpunkt längst das Elternhaus, ja, sogar die Stadt verlassen. Sie fragte mich, ob Papa mich komisch berühren würde. Ich war so derart schockiert und peinlich berührt, dass ich mit nein antwortete. Sie beließ es dabei und erzählte mir Jahre später, was auch sie durchmachen musste. Sie hat sehr darunter gelitten, mich zurücklassen zu müssen.

Machen wir einen Sprung nach vorn.
2002 war mein Vater schon lange verstorben, ich hatte geheiratet und zwei Kinder bekommen. Immer noch Mitglied der Zeugen Jehovas, jedoch nicht mehr so aktiv, wie man es von mir erwartete. Mir fehlte lediglich der Mut einen neuen, ja MEINEN Weg einzuschlagen. Die Lage änderte sich, als ich eines Tages das Gespräch mit zwei Aufsehern suchte. Ich litt schwer unter meinen Erfahrungen und suchte Hilfe. Im Rahmen dieses Gespräches erwähnte ich meinen Plan, eine Psychotherapie zu beginnen, um das Erlebte aufzuarbeiten. Diese beiden Männer waren so entsetzt von meinem Vorhaben, dass sie mir schließlich vorwarfen selbst schuld an der Misere zu sein. Hätte ich nur flehentlicher gebetet….Eine Therapie sei ausgeschlossen. Wir tragen nichts in die Öffentlichkeit, was Außenstehende an Jehovas grenzenloser Liebe zweifeln lassen könnte!

In diesem Moment beschloss ich, zu gehen. Die Umsetzung beanspruchte noch weitere fünf lange, harte Jahre, aber endlich war es soweit.
Ich nahm den sofortigen Ausschluss und die damit verbundene soziale Isolation in Kauf und war fortan kein Mitglied der Zeugen Jehovas mehr.
Ich gewöhnte mich daran, das Menschen, die noch gestern meine Freunde waren, nun die Straßenseite wechselten, wenn ich ihnen entgegen kam.
Ich musste lernen auf Sätze wie „Frohes neues Jahr“ plötzlich freundlich reagieren zu dürfen.
Ich musste auch lernen, dass Jehova mir gar nichts kann, wenn ich mit einem Mann zusammen war, den ich vorerst nicht heiraten wollte. Ich ließ mich tätowieren, piercen…Ich testete all das aus, wovon ich glaubte, das Jehova mich mit aller Konsequenz spüren lassen würde, wie bösartig ich war. Nichts passierte. Nichts außer Glück, Liebe und noch viele herrlich geschmückte Weihnachtsbäume. Nicht einer von ihnen ging je in Flammen auf ☺

Heute bin ich 38 Jahre alt, ich bin wieder verheiratet und habe drei große Kinder. Ich liebe sämtliche Feiertage, ich eskaliere bereits Anfang November in weihnachtlicher Euphorie und die Geburtstage meiner Kinder sind für mich jedes Jahr aufs Neue ein Geschenk.

Ich war eine Zeugin Jehovas.

Heute bin ich frei.

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