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Von Yvonne aus Rosenheim

„Mama! Mama!“, hörte ich meine 1-Jährige über das Babyphone rufen….

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„Ich komme“, antwortete ich und stellte meinen frischen Kaffee auf den Tisch.

Ich ging zu ihrer Schlafzimmertür, die Worte „Guten Morgen!“ lagen auf meinen Lippen. Aber als ich ihr Zimmer betrat, bemerkte ich, dass sie nicht wie gewöhnlich aufstand und darauf wartete, mich mit ausgestreckten Armen zu begrüßen. Stattdessen saß sie, teilweise versteckt hinter dem Geländer ihrer Krippe, so dass ich sie erst suchen musste.

Und dann sah ich sie.

Meine Tochter saß bewegungslos auf ihrem Bett, bedeckt mit einer dicken Decke voller Blut. Ein Strom lief von ihrer Nase auf ihren Pyjama und ihre Haut. Ihre blonden Haare waren durch das Blut bereits schwarz und völlig verklebt.

Als ich nach ihr griff, fiel ihr Kopf zur Seite wie eine Stoffpuppe.

„Schatz, wach auf, unser Kind! Da stimmt etwas nicht!“ Ich rief meinem Mann, der nebenan noch schlief.

Kurz darauf kam er zu uns ins Kinderzimmer. Der Blick des Entsetzens lag auf seinem Gesicht, als er sie sah. Er kippte ihren Kopf zurück und drückte ihr den Nasenrücken zusammen und versuchte so, den Blutfluss zu stoppen, aber es strömte weiter unvermindert aus ihren Nasenlöchern.

„Wir müssen ganz schnell ins Krankenhaus“, drängte mein Mann und wickelte die blutgetränkte Decke unserer Tochter schützend um sie.

Ich atmete tief durch und nickte, folgte ihm zum Auto. Durch meine Bluse konnte ich spüren, wie ihr Herz gegen meinen Körper schlug, ein schnelles Thrum-Thrum-Thrum, das die Stille bis ins Krankenhaus erfüllte.

Als wir ankamen, wurden wir in einen Raum geführt, wo wir auf den behandelnden Arzt warteten. Er kam kurz darauf mit seiner Assistentin im Schlepptau, die beide sichtlich erschüttert vom Anblick unserer Tochter. Jeder Teil ihres Körpers war in verschiedene Rottöne getaucht. Nach einer kurzen Untersuchung wurde uns gesagt, dass sie sofort ins Kinderkrankenhaus verlegt werden muss.

In der Ambulanz betrachtete ich den Körper meiner Tochter mit einer Angst, die mir den Atem raubte. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass sie immer noch ganz regelmäßig atmete. Ich legte ihre schlaffe Hand in meine und sagte ihr, wie viel Angst ich um sie habe.

 

Dann hob sie plötzlich ihren Kopf und ein Strom von blutigem Erbrochenem strömte aus ihrem Mund. Es fühlte sich an wie eine Million winziger, unsichtbarer Fäden, die sich auf einmal um meine Kehle legten und mir die Luft aus der Lunge zogen. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nur einen lauten Schrei ausstoßen.

Als wir 30 Minuten später im Krankenhaus ankamen, umgaben mein Baby Dutzende von Männern und Frauen, die weiße Laborkittel trugen und sie an medizinische Geräte und Schläuche anschlossen. Eine unheimlicher Klang von hektischen Stimmen hallte durch den Raum.

Mein Mann und ich standen verängstigt und hilflos an der Seite und wollten, dass sie stark bleibt.

„Hallo?“, sagte eine Frau und erschrak uns. „Bitte kommen sie mit mir.“

Lautlos folgten wir ihr auf die Intensivstation.

Die Ärzte der Kinderklink fanden raus, dass die Thrombozytenzahl unserer Tochter gefährlich niedrig war. Zum Vergleich: Eine normale Thrombozytenzahl eines Kindes liegt zwischen 150.000 und 300.000. Die Anzahl der Blutplättchen unserer Tochter lag jedoch bei 3.000. Das ist natürlich problematisch, denn je geringer die Zahl der Blutplättchen, desto größer ist das Risiko, dass ein Mensch Blutungen bekommt, weil sein Blut nicht normal gerinnen kann.

Als unsere Tochter ein Nasenbluten entwickelte, sollten ihre Blutplättchen sich zusammen kleben, um eine Art Dichtung über ihre Wunde zu bilden. Aber das ist nicht passiert. Infolgedessen erlitt sie einen erheblichen Blutverlust, entwickelte eine Anämie und benötigte eine Bluttransfusion. Unsere Tochter – die gestern noch völlig gesund zu sein schien – ließ sich nun eine Infusions in die Vene einführen, damit das Spenderblut ihr Leben retten konnte.

 

In den nächsten Stunden besuchten Ärzte verschiedener Fachrichtungen unser Krankenhauszimmer, überprüften die Vitalfunktionen unserer Tochter und versicherten uns, dass es ihr gut ging, …den Umständen entsprechend… Sie benutzten Wörter wie Leukämie und Thrombozytopenie (ITP) und sagten uns, dass mehr Tests nötig sein würden, um eine genau Diagnose zu erstellen.

„Was passiert jetzt?“ fragte ich unsere Ärzte alle paar Minuten.

„Wir werden bald genaueres wissen“, antwortete sie.

Früh am nächsten Morgen erfuhren wir, dass unsere Tochter keinen Blutkrebs hatte, aber sie hatte eine Blutkrankheit namens idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP). Ein Arzt vermutete, dass unsere Tochter im vergangenen Monat eine Virusinfektion entwickelt hatte und ihr Immunsystem reagierte, indem es nicht nur den Virus, sondern auch die Blutplättchen angriff.

Die entsprechende Behandlung wird allgemein als intravenöse Infusionstherapie mit Immunglobulin (IVIG) bezeichnet. Die Therapie sollte ihr Immunsystem neu starten, damit ihr Körper aufhört, sich selbst anzugreifen.

Und Gott sei Dank, exakt das hat es getan. Vierundzwanzig Stunden später waren ihre Blutplättchen auf ein normales Niveau von 150.000 zurückgekehrt, und 24 Stunden später konnten wir sie wieder mit nach Hause nehmen.

Ein Jahr ist vergangen, seit unsere Tochter ITP entwickelt hat. Wir haben immer noch keine Ahnung, was ihren Zustand letztlich wirklich verursacht hat. Bist jetzt wissen wir allerdings: Etwa 4 von 100.000 Kindern entwickeln jährlich ITP; die Symptome reichen von Petechien und übermäßigen Blutergüssen bis hin zu schweren Blutungen und manchmal führt es auch zum Tod. Für die meisten Kinder wird es nicht zu einer chronischen Erkrankung. Und zum Glück auch nicht für unsere Tochter.

Das heißt aber nicht, dass der Vorfall keine nachhaltige Wirkung hatte.

Der Krankenhausaufenthalt unserer Tochter hat mich gelehrt, dass schreckliche, unerwartete Tragödien jederzeit passieren können, und es gibt nichts, was ich tun kann, um das zu verhindern.

Aber was ich im letzten Jahr ebenso gelernt habe, ist, dass ich mein Leben nicht in ständiger Sorge leben kann. Ich kann nicht jedes Mal zum Arzt gehen, wenn mein Kind einen blauen Fleck bekommt, weil ich befürchte, dass die ITP zurückgekehrt ist. Ich kann nicht zulassen, dass das emotionale Trauma des Vorfalls einen dunklen Schatten auf mein Leben wirft, und noch wichtiger, auf ihr Leben. Nein, auf keinen Fall.

Was ich jedoch tun kann, ist, mich weniger auf all die schrecklichen Dinge zu konzentrieren, die meinem Kind passieren könnten, und meine Aufmerksamkeit stattdessen auf all die großartigen Dinge zu richten, die meinem Kind geschehen und bevorstehen. Zum Beispiel kann ich feiern, dass ich sie mit nach Hause nehmen konnte. Ich kann dankbar sein, dass sie heute hier ist, weil die Ärzte rund um die Uhr gearbeitet haben, um sie am Leben zu erhalten.

Das ist es, was ich tun kann, und das ist auch genau das was ich täglich tue.

Denn ein Elternteil zu sein bedeutet auch, die eigenen Sorgen und Ängste und Schmerzen etwas beiseite zu legen, damit man für sein Kind eine tröstende Stütze sein kann.

Ich muss um unser beider Willen glauben, dass es meinem Kind und mir in Zukunft gut gehen wird.

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